Narren – Vogelfrei

Redebeitrag Gerda Enk bei der Eröffnung
der Kunstinstallation am 21.05.2022

Narren – Vogelfrei

Installation am Rossweiher in Altdorf 
21.Mai  bis 23. Juni  2022

Liebe Altdorferinnen, liebe Altdorfer,

herzlich Dank für diesen lauschigen Platz am Weiher, der unseren Narren zur Verfügung gestellt  wurde.
Mittlerweile fühlen sie sich schon recht heimisch,  insbesondere seit unter ihnen ein Zeltlager errichtet worden ist, das nach Frieden ruft. 
Und Dankeschön all denjenigen die uns unterstützt haben, ohne deren Hilfe diese Installation nicht möglich gewesen wäre.

Lassen Sie mich mit einem kurzen Rückblick beginnen:
Mit Thomas Reuter verbindet mich viel.
Nicht nur unser gemeinsamer Herkunfts- und Wohnort, Winterhausen,  auch Parallelen der Familiengeschichte und,
vor allem, eine verwandte Auffassung von Kunst, die viele Projekte möglich gemacht hat. 

Eines der wohl für uns bedeutsamsten war das, das sich gegenläufig zum geplanten Ausstellungsvorhaben entwickelte.
Ein schöner Galerieraum, Bilder an den Wänden, Plastiken auf dem Boden – so war es gedacht.
In die Vorbereitungsgedanken brach der Kosovokrieg ein.
1999
Ein Schock…
Ein Schock aus dem sich schließlich ein Bewusstseinsprozess entwickelte: 
nämlich der, mit künstlerischen Mitteln auf politische Themen, gesellschaftliche Situationen und aktuelle, überpersonelle  Befindlichkeiten zu reagieren  – 
das wurde uns zum Anliegen und zur Aufgabe. Wir forderten von uns, ästhetische Vorgaben mit oft krassen Inhalten zu verknüpfen,
Wege zu finden, diese Gegensätze zusammenführen.
Der damalige Schock entlud sich in eine überdimensionale Installation mit dem Titel:
„Turmhoch über der Kreuzung Ausschau halten nach einer friedlichen Welt“

Wie klingt dieser Satz für uns heute?

Wie weit sind wir immer noch oder gerade jetzt entfernt von diesem erträumten Ou-Topos, diesem Ort in der Ferne,
diesem vielleicht nie zu erreichenden – utopischen –  Ort? Dieser Sehnsuchtsort ist beängstigend weit weggedriftet, die Schrecken sind so bedrohlich nah gerückt.

In einer Zeit unverhohlener Brutalitäten, rassistischer Exzesse,
menschenverachtender Grausamkeiten, in einer Zeit von Shitstorms,
Ungewissheiten und Verleumdungen haben wir uns auf die Suche nach einer Figur begeben,
die für uns Menschlichkeit in all ihren Facetten repräsentiert.
Und plötzlich stand der Narr vor uns
er breitete sich in unser Denken aus, wurde fassbarer und blieb doch unfassbar,
er rückte ins Zentrum unserer inhaltlichen und formalen Auseinandersetzung.

Wer jetzt an Fastnacht denkt, liegt völlig falsch
aber ebenso völlig richtig.

Wie das?

Was ist ein Narr? Wer ist ein Narr?

Ist er Mensch? Symbolfigur? Außenseiter? Ist er ein vagabundierender Grenzüberschreiter? Ist er Weiser oder Tölpel? Vielleicht sogar Hoffnungsträger?

Narren haben ein ganzes Universum an Möglichkeiten in sich, ohne der Illusion zu verfallen, dass es nur eine einzige Wirklichkeit und einzige Wahrheit gäbe, nämlich die eigene.
Damit sind sie menschlicher als wir Menschen, die wir dieselbe Gegensätzlichkeit in uns tragen, sie aber mangels Distanz zu uns zumeist gar nicht wahrnehmen können oder auch gar nicht wollen.

Narren sind gierig.

Narren sind gefräßig.

Narren sind Asketen.

Narren steht es zu, schonungslos die Wahrheit zu sagen.

Narren sind begnadete Lügner.

Sie sind Tölpel und sie sind Weise.

Sie sind unmoralisch und auf höchstem Niveau moralisch.

Sie sind frivol und züchtig.

Sie sind als Hofnarren sesshaft.

Und sie gehören dem fahrenden Volk an

Ihre konträre Vielschichtigkeit macht sie reizvoll und zugleich schwer einzuordnen, schwer zu erfassen.
Aus vielen Geschichten, Gedanken, Vorlagen und Vorbildern haben wir unsere Narren, die Idee unserer Narren entwickelt:
Unsere Narren  schauen von weit oben, mit Distanz auf eine Welt, die im Argen liegt und provozieren so zum Nachdenken.
Gnadenlos nehmen sie  die Wunden der Erde in den Blick. Sie zwingen uns zur Auseinandersetzung mit dem Schlimmen, dem Schrecklichen, dem Grausamen.
Aber in ihrer fast schon göttlich anmutenden Ganzheit lebt in ihnen auch die andere Seite, das Andere: die Schönheit, die Menschlichkeit und die Würde.
Sie lassen uns daher nicht ohne Hoffnung zurück.  Sie öffnen uns für diese Schönheit, für Farben, Nähe, Humor, Witz und Ironie,
für die Schönheit von  Blumen und Paradiesgärten.
Sie bringen uns zum Lachen und lehren uns die Fähigkeit, über uns selbst lachen zu können.

Aber darf man überhaupt lachen und den Frühling genießen, wenn gleichzeitig Kriege eine unerträgliche Zerstörung anrichten?
Darf ich mich unters fahrende Volk der Touristen mischen, wenn zeitgleich Menschen vor Naturkatastrophen und Kriegen auf der Flucht sind?
Darf ich im Mittelmeer genüsslich baden, wenn dort Flüchtlinge ertrinken?

Vogelfrei.

Dieses eine Wort beinhaltet die ganze Tragik dieser kaum zu ertragenden Parallelwelten.
Darf ich es genießen, frei wie ein Vogel zu sein, während andere Vogelfreie schutzlos der Acht, im Sinne einer Ächtung bis hin zur Verfolgung ausgeliefert sind?

Lasst uns auf die Narren schauen.
Lösungen bieten sie keine an.
Aber – ganz vage  –  ‚so irgendwie‘ wage ich doch zu sagen, dass sie vielleicht Orientierung bieten können:
denn selbst die Buntesten haben dunkle Stellen und die Chaotischsten haben  eine ureigene Ordnung
und noch die Düstersten, Schwarzen mit dem Datum vom  24. Februar, dem russischen Einmarsch in die Ukraine, schaukeln mit Leichtigkeit im Wind und lassen Hoffnung aufkeimen.

Gestern stand  ein Vogelfrei-Vorbericht im ‚Boten‘. Der Titel hat mir gefallen:

„Fliegt ihr Narren“  – (Danke, Johannes Gurguta!)
Versuchen wir, mitzufliegen und daran zu arbeiten, dass irgendwann „VOGELFREI“ nur noch die eine Bedeutung hat: frei sein wie ein Vogel.

Dieses Projekt wird aus dem Bildungsfonds des Landkreises Nürnberger Land kofinanziert.

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